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Title
Felix Hemmerli. Zürichs streitbarer Gelehrter im Spätmittelalter


Author(s)
Halter-Pernet, Colette
Published
Zürich 2017: Chronos Verlag
Extent
446 S.
by
Ernst Tremp, Mediaevistisches Institut, Universitaet Freiburg

Felix Hemmerli (1388–1458) gehört zu den interessantesten Gestalten Zürichs im 15. Jahrhundert. Geboren als Sohn einer ratsfähigen Familie, war er für die geistliche Laufbahn bestimmt. Nach dem Besuch der Stiftsschule am Grossmünster studierte er an der jungen Universität Erfurt Kirchenrecht. Bald erwarb er ansehnliche kirchliche Ämter und Pfründen: Er wurde Chorherr am Grossmünster, Propst am St. Ursenstift in Solothurn und Chorherr am St. Mauritiusstift in Zofingen, wobei seine Heimatstadt sein Lebensmittelpunkt und hauptsächliches Wirkungsfeld blieb. Ausgestattet mit diesen einträglichen Pfründen, setzte Hemmerli seine juristische Ausbildung an der prestigeträchtigen Universität Bologna fort und schloss sie mit dem Doktorat in Kirchenrecht ab. Dieser akademische Titel qualifizierte ihn für höhere kirchliche Ämter. Die angestrebte höchste Dignität in Zürich, das Amt des Propsts am Grossmünster, blieb ihm aber trotz päpstlich verbriefter Anwartschaft verwehrt; stattdessen erhielt er das Kantorenamt, die zweithöchste Dignität, und war damit für den Gottesdienst am Stift zuständig.

Als Kantor und Rechtsgelehrter entfaltete Hemmerli eine vielseitige Tätigkeit weit über Zürich hinaus. Er setzte sich für die Reform der Kirche ein, war als von Erfurt heimkehrender Bakkalaureus Augenzeuge des Konzils von Konstanz, nahm als Doktor am Konzil von Basel teil, liess sich zum Priester weihen – was zu seiner Zeit für Prälaten eine Ausnahme bildete – und schuf ab etwa 1438 als Autor ein reiches, vielfältiges, von Belesenheit und Gelehrsamkeit durchdrungenes Werk. Er rezipierte die Schriften Konrads von Mure (um 1210–1281), seines Vorgängers als Zürcher Kantor, in dessen Nachfolge er sich explizit stellte. In Solothurn erneuerte er die Stiftsstatuten. In seinen kirchen- und gesellschaftspolitischen Schriften prangerte er engagiert, teilweise polemisch Missstände an, so etwa die mangelnde Disziplin seiner Mit-Chorherren und Oberen, die Missachtung der Zölibatsverpflichtung, die ungerechten Richter, die Übergriffe der Bettelorden in die Pfarrseelsorge oder etwa die Missstände bei den Einsiedlern. Er verfasste Traktate über den Wettersegen, die Einführung neuer Feiertage, das Jubeljahr 1450, Exorzismen an Tieren, Naturheilbäder und viele mehr. Sein Bädertraktat beschreibt zum ersten Mal das Bad Pfäfers. Im Konflikt Zürichs mit den Inneren Orten im Alten Zürichkrieg nahm Hemmerli vehement Partei für Habsburg und das Reich, für den Adel und gegen die Schwyzer. Daraus entstand sein umfangreichstes und bedeutendstes Werk, das Adelsbuch (De nobilitate et rusticitate dialogus). Mit seinen Stellungnahmen, etwa der Schrift Passionale über seine Leidensgeschichte am Grossmünsterstift, machte sich Hemmerli viele Feinde; das führte 1439 zu einem Mordversuch und 1454 zur Gefangennahme sowie zum Prozess vor dem bischöflichen Gericht in Konstanz. Zu lebenslanger Haft verurteilt, beschloss Hemmerli seine Tage in der Verwahrung im Franziskanerkloster Luzern. Doch auch hier war es ihm möglich, schriftstellerisch tätig zu bleiben. Er schrieb mehrere Traktate mit zum Teil versöhnlichem Inhalt, aber auch ein mit seinen Gegnern abrechnendes Klageregister (Registrum querele).

Das anzuzeigende Buch nähert sich dem streitbaren Zürcher Gelehrten und dessen Werk in zwei Schritten. Im ersten Teil stellt Colette Halter-Pernet seine Lebensgeschichte in fünf Kapiteln dar, im zweiten Teil werden sieben ausgewählte Texte aus Hemmerlis Werk in der lateinischen Fassung und in deutscher Übersetzung geboten. Die Darstellung der Lebensgeschichte des ersten Teils setzt geschickt mit der dramatischen Schlussphase ein, der Verhaftung, dem Gerichtsverfahren und der Verwahrung («Der gelehrte Gefangene – letzte Lebensjahre»). Darauf folgen in chronologischem Ablauf und thematisch gewichtet die früheren Lebensphasen Hemmerlis: «Der ehrgeizige Akademiker – universale Gelehrtenkultur», «Der pflichtbewusste Kanoniker – Solothurn, das Basler Konzil und erste Schriften», «Der engagierte Adelsfreund – Herrschaftsideal und Alter Zürichkrieg» sowie «Der vielseitige Autor – Schriften zwischen Polemik und Pragmatik». Die Kapitel sind sinnvoll gegliedert und anregend zu lesen; sie führen den Leser anhand der Werke Hemmerlis, insbesondere seiner autobiographischen Schriften, ergänzt durch zahlreiche neu erschlossene archivalische Zeugnisse, in die Lebenswelt des Zürcher Gelehrten ein. Die oftmals schwierigen juristischen Texte, z. B. das Repertorium, das Handbuch seines Studiums in Erfurt, werden aufgeschlüsselt und in Hemmerlis Laufbahn eingefügt. Auch die gut ausgewählten Illustrationen des Abbildungsteils werden in die Darstellung geschickt eingebaut. Kleine Versehen wie «Weihbischof von Luzern» (S. 128) oder «Herzog von Habsburg» (S. 182) hätten durch eine sorgfältige Schlusslektüre verbessert werden können.

Die Kapitel des ersten Teils eröffnen die Zusammenhänge und interpretieren auf gelungene Weise die an sich oft schwer verständlichen, mit Gelehrsamkeit überladenen Traktate Hemmerlis. Besonders hervorzuheben ist eine eingehende Analyse seines Hauptwerks, des Adelsbuchs (S. 134–159). Bei der Lektüre dieses Kapitels revidiert und relativiert sich das gängige Bild von Hemmerli als dem Polemiker und Bauernhasser, das sich vor allem auf das berühmte, wohl kurz vor dem Friedensschluss Zürichs mit Schwyz 1450 entstandene Kapitel 33 gegen die Schwyzer stützt. Die Gestalt des Rusticus im Dialogus ist mindestens so sympathisch und dessen Argumentationsweise so überzeugend wie diejenigen seines Gesprächspartners und Gegenspielers, des Nobilis. Man geht mit der Verfasserin einig und stimmt auch dem jüngst verstorbenen profunden Kenner Guy P. Marchal (1938–2020) zu, dass die vertiefte Untersuchung und Edition dieses weitgehend unedierten Adelsbuches zu den grossen Desideraten der Schweizer Spätmittelalterforschung gehört (S. 197).1

Der zweite Teil des Buches enthält als Leseausgabe eine Auswahl aus sieben Werken Hemmerlis. Erika Egner Eid, die selber eine Dissertation über die kirchenpolitischen Schriften Hemmerlis vorbereitet, hat dazu drei Übersetzungen beigesteuert: «Gegen diejenigen, welche den Gottesdienst vernachlässigen» (Nr. 1), «Entwurf einer Appellation dagegen, dass ein Kardinal [Nikolaus von Kues] in Deutschland einen Bischofssitz [Brixen] übernehmen sollte» (Nr. 6) und «Klagregister» (Nr. 7). Helena Müller hat die vier anderen Auswahltexte übertragen: «Dialog über den Adel und das Bauerntum» (Auszüge, Nr. 2), «Wortlaut eines Doktordiploms in Dummheit» (Nr. 3), «Über das Transportieren von Trottbäumen [Baumstämmen für die Weintrotten] an Feiertagen» (Nr. 4) und «Über das Segnen des Wetters mit dem Sakrament» (Nr. 5). Es ist verdienstvoll von den beiden Übersetzerinnen, dass sie die oftmals schwer verständlichen lateinischen Texte mit bisweilen verschachtelten, komplizierten Gedankenfolgen entwirrt und, mit knappem Kommentar versehen, dem heutigen Leser erschlossen haben.

Der Band wird durch einen Bildteil mit 24 farbigen Abbildungen, eine Kurzbiographie, eine chronologische Werkübersicht und eine Bibliographie abgeschlossen. Die hier angeführten ungedruckten Quellen hätten zur leichteren Auffindbarkeit besser alphabetisch nach den Bibliotheks- bzw. Archivorten (statt nach dem Anfangsbuchstaben der Institutionen) gegliedert sein sollen, z. B. «Konstanz, Bibliothek des Heinrich-Suso-Gymnasiums» statt «Bibliothek ... Konstanz». Der Benützer vermisst vor allem ein Namenregister für den ersten, darstellenden Teil, das die darin enthaltenen reichen Informationen zu Personen und Orten erschliessen würde.

Abgesehen von diesen geringfügigen Anmerkungen ist das neue Buch über Hemmerli sehr zu loben und dessen Lektüre zu empfehlen. Es eröffnet als Einführung, als Lese- und Studienbuch auch für weitere Kreise einen neuen Zugang zum Zürcher Gelehrten und seinem Werk. Bleibt mit den Autorinnen zu hoffen, dass sich durch diese Publikation «ein enthusiastischer Funke entzündet, um endlich eine kritische Gesamtausgabe von Hemmerlis Schriften in Angriff zu nehmen, welche seit längerem ein wissenschaftliches Desiderat darstellt» (S. 20).

1 Vor längerer Zeit ist unter der Ägide der damaligen AGGS, wie die heutige SGG damals hiess, eine Quellenedition von De nobilitate begonnen worden; die weit fortgeschrittenen Vorarbeiten hat die SGG im April 2020 dem Staatsarchiv Zürich übergeben. Sie stehen somit der Forschung zur Vollendung der Edition zur Verfügung.

Zitierweise:
Tremp, Ernst: Rezension zu: Halter-Pernet, Colette: Felix Hemmerli. Zürichs streitbarer Gelehrter im Spätmittelalter, mit Übersetzungen aus dem Lateinischen von Helena Müller und Erika Egner Eid, Zürich 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 457-459. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.

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